NEITHARD BETHKE                          WERKVERZEICHNIS - NBWV
  
 

KLEINE AUSZEIT - ZUR WEIHNACHTSZEIT

Ein Raum für Andacht, Geist und Seele



Heilige Nacht

Dietrich Heyde, Jübek im Dezember 2023


In seinen „Hymnen an die Nacht“ schreibt Novalis, der Dichter der Romantik: „Es ist nicht das Licht, das uns die Augen öffnet, es ist „die Nacht mit ihren unendlichen Augen“. Wir brauchen einen „Durchbruch zur Nachterfahrung“, meint er. Wir müssen „sehen mit den Augen der Nacht“.
Das klingt geheimnisvoll und überraschend. Denn es stellt unsere Erfahrung geradezu auf den Kopf. „Nacht“ steht doch sonst für alles, was uns Angst macht, wovor wir erschrecken. Und nun soll ich „sehen mit den Augen der Nacht“? Wie kann das gelingen?

Aufschluss gab mir eine kleine Notiz in der Weihnachtsgeschichte. Sie erzählt, dass die Hirten „des Nachts“ ihre Herde hüteten. Es war also „Nacht“, als der Engel den Hirten verkündigt: „Euch ist heute der Heiland geboren.“ „Nacht“ ist hier viel mehr als eine Zeitangabe. Denn sie wird zum fruchtbaren Schoß der Offenbarung. Kaum zufällig singen wir in unseren Christvespern „Stille Nacht, heilige Nacht“ und feiern um Mitternacht die Christmette und nennen diese ganze Zeit „Weih-Nacht“. Die „Nacht“ hat eine tiefere Bedeutung:

Zunächst einmal schließt sie uns die Augen. Wo stockfinstere Nacht ist, können wir nichts sehen. Die Nacht blendet die Welt aus. Sie macht, dass dein Tag schweigt. Ja, sie bringt in dir die Welt zum Schweigen. Und damit setzt sie ein wichtiges Zeichen:
Wenn wir das Wunder, das Licht der Weihnacht sehen, ja leibhaftig erfahren wollen, dann muss es Nacht werden. Die Weih-Nacht hat nichts zu tun mit den langen Winternächten draußen, die jetzt den kurzen Tagen folgen. Nein, gemeint ist die Nacht, die dir die Augen schließt für all den geschäftlichen Glitzerkram, mit dem wir Menschen in diesen Vorweihnachtstagen einmal mehr versucht haben, unsere Nächte aufzuhellen. Gemeint ist die Nacht, die den Lärm der Welt und das Getöse des Alltags in uns zum Schweigen bringt.

Warum aber geschieht das? Warum ist das nötig?

Das Verschließen unserer Augen geschieht um des Öffnens willen. So paradox es klingt – es ist die Nacht, die uns sehen lehrt. Es ist die Nacht, die uns die Sinne schärft: Sterne sind, wie wir wissen, immer da. Nur können wir sie bei Tage nicht sehen. Wir sehen sie am Firmament erst, wenn es Nacht wird. Und je dunkler die Nacht, desto klarer sind sie zu erkennen. Das ist unsere Erfahrung. 

Genauso verhält es sich mit dem weihnachtlichen Wunder: 

Erst die Nacht zeigt uns den Stern von Bethlehem. Erst die Nacht bringt ihn zum Leuchten in uns, damit wir Orientierung haben und eine verlässliche Perspektive. Die Nacht von Bethlehem will unser Leben zu einer Sternstunde machen. Kann unsre Nacht noch traurig sein, wenn Gott in tiefster Nacht erschienen ist?

Die Nacht ist vorgedrungen

aus op. 70, Ratzeburger Chorbuch

Ak. Chor Zittau/ Görlitz e.V., Deutsches Bachorchester, Leitung: Neithard Bethke


Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern.
So sei nun Lob gesungen, dem hellen Morgenstern!
Auch wer zur Nacht geweinet, der stimme froh mit ein.
Der Morgenstern bescheinet auch deine Angst und Pein.


Dem alle Engel dienen, wird nun ein Kind und Knecht.
Gott selber ist erschienen zur Sühne für sein Recht.
Wer schuldig ist auf Erden, verhüll nicht mehr sein Haupt.
Er soll errettet werden, wenn er dem Kinde glaubt.


Gott will im Dunkel wohnen und hat es doch erhellt.
Als wollte er belohnen, so richtet er die Welt.
Der sich den Erdkreis baute, der lässt den Sünder nicht.
Wer hier dem Sohn vertraute, kommt dort aus dem Gericht.



KLEINE AUSZEIT - IM HERBST


Ungewissheit als Teil des Lebens
von Dr. Michael Wieler, Freie Wählervereinigung "Bürger für Görlitz e.V."


Jahrzehntelang war Krieg für uns eine Informationslage. Jetzt hat er uns – nein, er hat uns nicht erreicht! Wir spüren erste Folgen. Mehr nicht. Die furchtbaren Bilder und Berichte aus der Ostukraine und jetzt aus Israel und dem Gaza-Streifen machen unmissverständlich klar, was es bedeutet dass jegliche Normalität des Lebens endet und die grausame Wirklichkeit des Krieges eintritt.  

Die Würde des Menschen ist antastbar. Sie ist nur da eine Realität, wo Menschen sie anerkennen und durch menschliches Handeln im Kleinsten wie im Großen Wirklichkeit werden lassen.

Dies kann sehr einfach sein oder auch Heldentaten erfordern. Wozu wir in der Lage sind wissen wir wohl erst, wenn wir ganz persönlich einer „Bewährungsprobe“ ausgesetzt sind. Wozu wir aber bereit im Sinne der Menschenwürde sind, darüber müssen wir reden und mehr Klarheit gewinnen. Das ist eine persönliche und eine gesellschaftliche Aufgabe, und damit auch eine kommunalpolitische.

Wir sind daher in der Verantwortung, einen besonnenen Diskurs in Zeiten des Krieges zu fördern. Dazu gehört auch anzuerkennen, dass es keine Lösung für die eskalierte Weltlage gibt, die heute erkannt, formuliert und umgesetzt werden könnte.

Wir erleben leider ein engstirniges Hadern und Polemisieren über Fragen wie die, ob es richtig oder falsch sei, beispielsweise Taurusraketen an die Ukraine zu liefern oder nicht. Niemand kann dies entscheiden und sollte es daher auch nicht selbstbezogen zu seiner politischen Profilierung instrumentalisieren. Vielmehr gilt es einzusehen, dass in solchen Fragen immer gute Argumente und Gegenargumente existieren und es im Kern darum geht, historische Verantwortung für Entscheidungen zu übernehmen, deren Richtigkeit man sich nicht sicher sein kann. Damit wäre für den gesellschaftlichen Diskurs viel gewonnen.

Dafür ist allerdings auch die Kraft erforderlich, Ungewissheit als Teil des Lebens zu akzeptieren. Ein Vermögen, das bei vielen Menschen wenig ausgeprägt ist, auch nicht in Zeiten des Friedens. 

Das Ignorieren des Ungewissen und damit der Angst vor dem Unbekannten, ist mit Sicherheit ebensowenig eine Lösung wie das Zurückweisen von Flüchtlingen an der Grenze. So geschaffene Bastionen werden nicht halten. Und politische Mehrheiten, welche dies behaupten, beschwören die Gefahren des Krieges nur umso heftiger herauf.

Dennoch ist natürlich auch das einfache Gegenteil, die unbegrenzte Aufnahme von Menschen, die ein Recht auf Asyl haben, nicht „richtig“, um bei diesem Beispiel zu bleiben. Weder das eine noch das andere ist die „richtige Lösung“. Unsere Herausforderung ist, uns jeden Tag im Sinne der Menschenwürde der Ungewissheit unserer Entscheidungen zu stellen und Verantwortung für konkretes Handeln zu übernehmen – in Berlin oder in Görlitz. So haben wir die Chance, Teil einer Lösung zu sein.


Das Wörtlein
aus op. 130, "Das unverschämte Glück" (Worte: Eva Zeller)
Alt: Julia Fercho, Klavier: Wieslaw Czuj


Eva Zeller - Das Wörtlein

Es soll auf unserm Erdenrund

über dreitausend geschriebene
und fast zweitausend nur
gesprochene Sprachen geben

Eine davon die Mutter-
die Vater- die Unsersprache
geschrieben gesprochen
nicht zu vergessen gesungen

darüberhinaus an
verschiebbaren Perlen entlang
geflüstert kaum daß man dabei
die Lippen bewegt

als habe man sich des alt-
gewordenen Vokabulars zu schämen
das sich nicht plaudern lässt

Selbst dem geringsten
unter den Worten
das sich klein gemacht hat
zum Wörtlein
hört man seine Herkunft noch an

Das kann fällen
das Wörtlein
den altbösen Feind
Der will uns um
unsere Sprache bringen
die tonlos gemurmelte
und uns gar verschlingen

Wir können ein Lied davon singen



KLEINE AUSZEIT - IM SOMMER

Weiches bricht Hartes

von Dietrich Heyde

Ein steiniges Ufer am Meer. Wieder und wieder umspülen die Wellen den Stein, umspielen ihn bei Tag und Nacht, jahraus, jahrein. Es scheint, als könne das weiche Wasser dem harten Stein nichts anhaben. Doch auf Dauer gesehen verändert das Wasser den Stein, formt ihn um, durchlöchert ihn, ja wäscht ihn weg. Weiches bricht Hartes. In einem Lieden aus den Tagen der Friedensbewegungheißt es deshalb über das Wasser:


"Es reißt die schwersten Mauern ein,

und wir sind schwach und wir sind klein,

wir wollen wie das Wasser sein,

das weiche Wasser bricht den Stein."

Ein treffendes Gleichnis dafür, dass wir auch vor den größten Härten des Lebens nicht zu kapitulieren brauchen. Dies lehrt uns die Berührung des harten Steins mit dem weichen Wasser. Auch das hartnäckigste Leid und Elend wird am Ende weichen. Gewalt und Terror, so übermächtig sie sich gebärden, behalten nicht das letzte Wort. Weiches bricht Hartes. Wichtig ist, dass auch bei uns etwas ins Fließen kommt wie Wasser, eine Kraft, die sich nicht abfindet mit den Härten unseres Daseins, die nicht aufgibt, nicht resigniert, keinen Augenblick.

Ich begegnete einmal einer Frau, die durch einen Unfall an einen Rollstuhl gefesselt war. Sie erzählte, wie hart die ersten Jahre waren. Sie konnte nicht akzeptieren, was ihr widerfahren war. Bis eines Tages der Durchbruch kam. Der brachte etwas in ihr zum Fließen, etwas wie Wasser, das Steine wegwäscht vom Herzen. Denn von Stunde an war es ihr gegeben, obgleich weiter an den Rollstuhl gebunden, jeden Tag neu alle Dunkelheit in Licht zu verwandeln, alle Angst in Vertrauen und alle Traurigkeit in Freude. Etwas wie Wasser will bei uns alles Verhärtete ins Fließen bringen. Was aber ist das?

Dem Mann Hiob, so erzählt die Bibel, lagen Verlust, Leid und Schmerz schwer auf der Seele. Dennoch hörte er in den Abgründen und Tiefen seines Lebens nicht auf, mit Gott zu reden. Bei ihm war es das Gespräch mit Gott, das Hören auf sein Wort, das ihm Wende und Durchbruch schenkte. Die Erfahrung Hiobs will uns ermutigen, dem Wort etwas zuzutrauen.

Mag es dir auch durchlässig und weich wie Wassertropfen vorkommen, schwach und gering, ja wie nichts angesichts der schweren Steine, die dir auf der Seele liegen: Sei nur gewiss - stärker und mächtiger als alle Gewalt ist das Wort des lebendigen Gottes. Es wäscht Steine weg. Ja, es hat die Kraft, versteinerte Herzen zu durchdringen und zu formen - sanft, stetig, geduldig, bis etwas ins Fließen kommt. "Das weiche Wasser bricht den Stein."


"Das weiche Wasser bricht den Stein" - wurde Ende der 70er Jahre von Dieter Dehm für die Friedensbewegung geschrieben.





Kein Stein, dem Meer ausgesetzt
aus op. 21, "Am Meer"

Tenor: Christian Bild, Englischhorn: Sebastian Erler, Orgel: N. Bethke



KLEINE AUSZEIT - IM SOMMER

Das Naheliegende muß nicht die Antwort sein.


Ein Philosophieprofessor kommt in die Vorlesung, geht nach vorne, schaut in das vollbesetzte Auditorium und stellt, ohne große Worte zu machen, einen Glasbehälter vor sich aufs Pult. Dann holt er einige faustgroße Steine unter dem Pult hervor und legt sie in das Glas. Ein letzter Stein will nicht mehr so recht hineinpassen. Er nimmt ihn wieder heraus und legt ihn zur Seite.

Erwartungsvoll schaut der Professor in die Runden seiner Studenten. „Ist das Glas nun voll?“, fragt er sie. „Ja!“ hallt es einmütig aus den Reihen der Studenten. „Nun, wir werden sehen“, sagte der Professor etwas schmunzelnd und schüttete aus einem kleinen Sack Kieselsteine zwischen die im Glas befindlichen faustgroßen Steine.  Rüttelt nochmal mal Glas, dass sie sich gut verteilten und fragte dann wiederrum erwartungsvoll in die Runde: „Ist das Glas nun voll?“

Die Studenten waren nun vorsichtiger geworden. Der Professor hatte etwas im Sinn, das war ihnen klar. „Sie tun gut daran, zu zweifeln“, sagte er und holte einen weiteren Sack mit feinem Seesand hervor, der er nun ins Glas schüttete. Und als er dann den Sand am Rand des Glases glatt strich, ging zum dritten Mal sein Blick in den Hörsaal. „Nein, das Glas ist noch nicht voll“, riefen nun die Studenten entschieden, denn es war ihnen allen klar, das naheliegende konnte nicht die Antwort sein. „Sie haben recht“, antwortete der Professor, öffnete eine Flasche Wein und goss den Inhalt in das Glas mit den Steinen, bis es zum Überlaufen voll war.

„Nun“, stellte der Professor fest, „nun ist das Glas voll! Ich frage sie jetzt: Was wollte ich ihnen mit dieser Demonstration leeren?

Das Glas ist euer Leben. Füllt es nicht falsch aus. Füllt es zuerst mit den wichtigen Dingen im Leben, mit den großen Steinen. Für die kleinen Steine, die kleinen Dinge im Leben ist dann immer noch Platz. Umgekehrt geht das nicht: Beginnt ihr mit den kleinen Steinen, dann ist das Glas bald voll und ihr werdet keinen Platz mehr für die großen Aufgaben in eurem Leben haben."

Textauszug einer Predigt von Dr. Heinz Zimmermann-Stock (30.04.2023, Büsum), Vielen Dank!

Epitaph
op. 58, Nr. 3/1987, Violine: R. Knauth, Orgel: N. Bethke







KLEINE AUSZEIT - IM FRÜHJAHR

Umkehr braucht ein offenes Herz
Predigt von Pf. Thomas Cech, (St. Marien/Zittau) am Sonntag, den 19.02.2023

In jener Zeit sprach Jesus zu seinen Jüngern:
Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Auge für Auge und Zahn für Zahn.
Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand,
sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin!    

(Mt 5, 38–48)


Ratlosigkeit ist es, die sich nach dem Hören des heutigen Evangeliums ausbreiten kann. Dieser Text angesichts des bevorstehenden Jahrestages an dem Rußland die Ukraine überfallen hat und seitdem Tod und Zerstörung über das Land bringt!
Ich beginne persönlich: Bei meiner Musterung vor inzwischen 40 Jahren habe ich den Dienst mit der Waffe verweigert. Mein Slogan war: Ich werde Spatensoldat. Ich nahm keine Waffe in die Hand. Ich trug zwar keinen Aufnäher „Schwerter zu Pflugscharen“, denn die waren schwer zu bekommen. Aber ich hatte einen Aufkleber: „Spiel Frieden. Nicht Krieg.“ Und ich bin noch heute froh über die friedliche Revolution 1989: Kerzen in den Händen! Und die Rufe: „Keine Gewalt“. Das alles passt doch 1:1 zum heutigen Evangelium. Nun aber sprechen täglich die Waffen. Was, soll das jetzt richtig sein? Wo bleibt dann die Botschaft des Evangeliums?

Mit solchen Fragen stoßen wir auf eine wiederkehrende Problematik. Sie besteht darin, dass eine Stelle der Heiligen Schrift isoliert auf den Leuchter gestellt wird, ohne das Gesamte der Botschaft zu betrachten. Tut man aber das, dann entsteht ein differenziertes Bild: Jesus hat keinen platten Pazifismus gepredigt, er hat das Reich Gottes verkündet. Darüber hinaus gibt es noch andere Nuancen:

- Da geht Jesus mit den Schriftgelehrten und Pharisäern hart ins Gericht. Er sagt: „Weh euch, ihr Heuchler. Ihr gleicht übertünchten Gräbern, außen hübsch weiß, innen voller Fäulnis.“ Das ist keine gewaltfreie Rede.
- Da macht Jesus eine Geißel und treibt die Händler zornig aus dem Tempel heraus. Dies ist auch kein pazifistischer Ansatz.
- Und dann ist auch noch der Erzengel Michael. In meiner Heimatstadt Bautzen steht er im Dom, ganz oben auf dem Hochaltar. Ein Flammenschwert hält er in der Hand. Wir kennen die Darstellung, wie er gegen den Teufel kämpft. Nein, auch er hält nicht die andere Wange hin.

Wenn wir die Bibel also in der ganzen Breite betrachten, dann sitzen wir förmlich zwischen den Stühlen: hier diese überdeutliche Aufforderung zur Gewaltlosigkeit, dort eine fast martialische Sprache, die kompromisslos zum Kampf auffordert. Was ist richtig? Beides, lautet die Antwort. Und das macht es nicht gerade leicht, eine passende Antwort für die Gegenwart zu finden.
Ein solcher Ansatz gibt den Anstoß, weiträumiger zu suchen. Dabei, bei dieser Suche, kann man auf Thomas von Aquin stoßen, und auf seine Lehre vom gerechten Krieg. Tatsächlich, der entscheidende Theologe des Mittelalters spricht vom „gerechten Krieg“, und er beruft sich dabei auf Augustinus, auf den breiten Strom der Tradition.

Eine Predigt reicht nicht aus, um das in seiner Breite und in seiner Tiefe darzustellen - darum wenigstens einige wenige Aspekte. Thomas von Aquin formuliert eine ganze Reihe von Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit ein Krieg tatsächlich gerecht ist.

Eine kleine Auswahl:
1. Es muss ein Verteidigungskampf sein. Der Aggressor ist nie im Recht.
2. Er muss letztes Selbstbehauptungsmittel sein. Vorher müssen andere Versuche für eine friedliche Lösung gescheitert sein.
3. Es muss zwischen Kämpfenden und Nichtkämpfenden unterschieden werden.
4. Ziel muss die Bewahrung des Rechts sein.
5. Es kann eine Pflicht bestehen, einem Volk beizustehen, das zu Unrecht angegriffen wurde.

Nun könnte man sagen: Thomas von Aquin! Das ist Mittelalter! Gilt diese Lehre auch heute noch in der Kirche? Die Antwort lautet: Ja, sie gilt auch heute noch. Wer einen Text der heutigen Zeit sucht, kann folgendes Dokument der Deutschen Bischöfe aus dem Jahre 1983 zur Hand nehmen, es trägt den Titel: „Gerechtigkeit schafft Frieden“. Mit anderen Worten: Das Fundament des Friedens ist Gerechtigkeit. Sie sagen sehr treffend: Frieden ist nicht der Zustand von Nicht-Krieg. „Einem Staat kann die sittlich erlaubte Verteidigung nicht abgesprochen werden.“ Das ist in der Tat kein platter Pazifismus.

Aber was ist nun mit der Bergpredigt? Hat sie damit ihre Geltung verloren? Nein, sie gilt gleichermaßen. Aber sie muss auch richtig verstanden werden. Jesus hat nicht als oberstes Ziel die absolute Gewaltlosigkeit. Das Ziel ist die Bekehrung des Sünders, seine Hinwendung zum Guten. Sein Ziel ist ein friedvolles Herz.
Absolute Gewaltlosigkeit lässt dem Teufel freie Hand, so nimmt das Unrecht seinen Lauf. Damit wächst kein Reich Gottes. Dem Teufel aber muss Widerstand geleistet werden, eindeutig. Das heißt: Wenn der Ansatz der Bergpredigt nicht zur Bekehrung führt, nicht zur Umkehr des Gewalttäters, dann sind andere Wege angezeigt. Umkehr braucht immer ein Herz, das offen und bereit ist. Wo das existiert, dort wird die das heutige Evangelium zu einem Weg, der zum Heil und zum Frieden führt. Wo es nicht existiert, dort bringt ein Verweis auf die Gewaltlosigkeit genau das Gegenteil hervor.

Lassen wir uns nicht verwirren. Auch heute wird gern versucht, die Worte Jesu so zu deuten, dass sie der Aggression in die Hände spielen. Erinnern wir uns an die Geschichte von der Versuchung Jesu in der Wüste: Dort hat sogar der Teufel das Wort Gottes im Munde geführt. Er hat es isoliert und aus dem Zusammenhang gerissen – mit Ziel, es in sein Gegenteil zu verkehren. Jesus ist dieser Verwirrung entgegengetreten, indem er Bezug genommen hat auf eine andere Stelle der Heiligen Schrift. So hilft auch uns heute eine breite Betrachtung der biblischen Botschaft zu einer differenzierten Beurteilung der Gegenwart. Sicher, das mag tatsächlich nicht immer einfach sein. Einfache Antworten sind allerdings oft ganz schnell mal falsch.




 

Jesus nimmt die Sünder an
aus op. 70 "Ratzburger Chorbuch", Ratzeburger Domchor, live


Jesus nimmt die Sünder an. Saget doch dies Trostwort allen, welche von der rechten Bahn auf verkehrten Weg verfallen. Hier ist, was sie retten kann: Jesus nimmt die Sünder an.

Keiner Gnade sind wir wert; doch hat er in seinem Worte eidlich sich dazu erklärt. Sehet nur, die Gnadenpforte ist hier völlig aufgetan: Jesus nimmt die Sünder an.

Jesus nimmt die Sünder, mich hat er auch angenommen. Und den Himmel aufgetan, dass ich selig zu ihm kommen. Und auf den Trost sterben kann: Jesus nimmt die Sünder an.



Erschienen im Ratzeburger Chorbuch, EM 394

 

(Mt. 5, 38-48) In jener Zeit sprach Jesus zu seinen Jüngern:
Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Auge für Auge und Zahn für Zahn.
Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand,
sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin!

Und wenn dich einer vor Gericht bringen will, um dir das Hemd wegzunehmen, dann lass ihm auch den Mantel!
Und wenn dich einer zwingen will, eine Meile mit ihm zu gehen, dann geh zwei mit ihm!
Wer dich bittet, dem gib, und wer von dir borgen will, den weise nicht ab!

Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen.
Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen,
damit ihr Kinder eures Vaters im Himmel werdet; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.

Wenn ihr nämlich nur die liebt, die euch lieben, welchen Lohn könnt ihr dafür erwarten? Tun das nicht auch die Zöllner?
Und wenn ihr nur eure Brüder grüßt, was tut ihr damit Besonderes? Tun das nicht auch die Heiden?
Seid also vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist!


Wir unterstützen seit März 2022 einen katholischen Pfarrer in der Ukraine und damit die Menschen in seiner Umgebung.

Hier gibt es Informationen dazu: www.in-terra-pax.eu




KLEINE AUSZEIT - IM WINTER

Auf weiten Raum
Dietrich Heyde


Es ist befreiend schön, seine Füße auf weiten Raum zu stellen. Im nordfriesischen Wattenmeer habe ich das erfahren. Dort ist Weite. Dort ist Horizont. Nichts hält meinen Blick auf. In der Weite diese Landschaft hört mein Atem auf, kurz zu sein. Hetze und Hektik verlieren sich. Auch aller Lärm des Tages, der sich in mir angesammelt hat. Und nicht selten habe ich das Gefühl, dass alles Enge und Kleinliche von mir abfällt.


Dort wird mir bewußt, dass mit der Weite des Raums die Zeit, das Maß gefühlter und erfahrbarer Zeit länger wird. Das Wort „Zeitraum“ macht die innere Beziehung von Raum und Zeit deutlich. Da draußen wird mir klar, dass sich „Zeit“ nicht zuerst nach ihrer Länge bemißt, sondern nach ihrem Gewicht. Du kannst dein Leben nicht länger, wohl aber breiter und tiefer machen. Auf die Zeit-Dimension der Tiefe kommt es an.
Die Halliglandschaft macht mir anschaulich, was unverzichtbar ist und in jedes Menschenleben gehört – nämlich der „weite Raum“. Denn ohne ihn gibt es keinen „Horizont“, keine „Perspektive“, keine „erfüllte Zeit“. Das Wattenmeer mit seinen Inseln und Halligen ist mir zum Spiegel geworden für den weiten Raum, auf den Gott unsere Füße stellt.

So heißt es in der Bibel: „Du stellst meine Füße auf weiten Raum.“ (Psalm 31.9) Auf weiten Raum? Wo hat der biblische Beter den gefunden? Sag mir den Namen dieser Landschaft dieser Landschaft, damit auch ich dorthin gehe und in ihr lebe.

Und der Psalmbeter würde antworten und erzählen:
Als ich mich ausweglos umstellt sah von äußeren Feinden, die mir zu stark waren, als innere Feinde mich zuschnürten, dass mir der Atem ausging, als sie gleichermaßen über mich gingen wie starke Wasser – da in meiner Angst schrie ich zu Gott. Und Gott erhörte mich auf weitem Raum (Psalm 118.5). Er streckte seine Hand aus und zog mich aus großen Wassern. Ja, er riss mich heraus und führte mich ins Weite (Psalm 18, 17.20) Ja, das tat Gott. Denn er hatte Lust zu mir. Und weil er Lust hatte zu mir, schnürte er mich los. Er befreite mich von jeder Fessel und gab meinen Schritten weiten Raum, dass meine Knöchel nicht wanken. (Psalm 18, 37)

Ob du wohl verstehst?

Der weite Raum – Gott selbst ist es. So lautet sein Name – „weiter Raum“. Und mit allem, was Gott tut, will er dich dahin bringen, dass du dort bist, wo er selbst ist – auf weitem Raum. Denn dort hat dein Leben Horizont. Dort findest du eine gültige Perspektive. Dort hast du nicht nur ausgefüllte, sondern erfüllte Zeit. Auf weitem Raum verwandelt sich Zeit in Ewigkeit. Und diese Landschaft ist da, wo du bist.

Wer mißt die Wasser mit der hohlen Hand

aus op. 96 "Halligpsalmen", Worte von Dietrich Heyde, Akademischer Chor Zittau/Görlitz e.V., Prager Kammerchor; Akkordeon: Ruslan Kratschkowski




Wer mißt die Wasser mit der hohlen Hand und bindet die Fluten in ein Kleid? Wer macht in starken Wassern Bahn und geht auf den Wogen des Meeres?

Es ist der Herr. Es ist der Herr der Heerscharen. Der Gott Israels. Er gebot und stellte das Wasser wie eine Mauer, dass unsre Väter durchs Meer gingen wie über trockenes Land.

Gott der Väter!

Der du herrschest von einem Meer bis ans andere, ach, deine Güte reicht soweit, und deine Weite bis über die Wolken.

Der du zugesagt hast: „So du durch Wasser gehst, ich will bei dir sein.“

Du hast meine Füße auf weiten Raum gestellt.




KLEINE AUSZEIT - IM WINTER


Schneien
Robert Walser (1917)



Es schneit, schneit was vom Himmel herunter mag, und es mag erkleckliches herunter. Das hört nicht auf, hat nicht Anfang und nicht Ende. Einen Himmel gibt es nicht mehr, alles ist ein graues, weißes Schneien. Eine Luft gibt es auch nicht mehr, sie ist voll Schnee. Eine Erde gibt es auch nicht mehr, sie ist mit Schnee und wieder mit Schnee zugedeckt. Dächer, Straßen, Bäume sind eingeschneit. Auf alles schneit es herab und das ist begreiflich, denn wenn es schneit, schneit es begreiflicherweise auf alles herab, ohne Ausnahme.

Alles muß den Schnee tragen, feste Gegenstände wie Gegenstände, die sich bewegen, wie zum Beispiel Wagen, Mobilien wie Immobilien, Liegenschaften wie Transportables, Blöcke, Pflöcke und Pfähle wie gehende Menschen. Kein Fleckchen existiert, das vom Schnee unberührt bleibt, außer was in Häusern, in Tunneln oder in Höhlen liegt. Ganze Wälder, Felder, Berge, Städte, Dörfer, Ländereien werden eingeschneit. Auf ganze Staatswesen, Staatshaushaltungen schneit es herab.
Nur Seen und Flüsse sind uneinschneibar. Seen sind unmöglich einzuschneien, weil das Wasser allen Schnee einfach ein- und aufschluckt, aber dafür sind Gerümpel, Abfällsel, Hudeln, Lumpen, Steine und Geröll sehr veranlagt, eingeschneit zu werden. Hunde, Katzen, Tauben, Spatzen, Kühe und Pferde, sind mit Schnee bedeckt, ebenso Hüte, Mäntel, Röcke, Hosen, Schuhe und Nasen. Auf das Haar von hübschen Frauen schneit es ungeniert herab, ebenso auf Gesichter, Hände und auf die Augenwimpern von zur Schule gehenden zarten kleinen Kindern. Alles, was steht, kriecht, läuft und springt wird sauber eingeschneit. Hecken werden mit weißen Böllerchen geschmückt, farbige Plakate werden weiß zugedeckt, was da und dort vielleicht gar nicht schade ist. Reklamen werden unschädlich und unsichtbar gemacht, worüber sich die Urheber vergeblich beklagen.

Weiße Wege gibt´s, weiße Mauern, weiße Äste, weiße Stangen, weiße Gartengitter, weiße Äcker, weiße Hügel und weiß Gott was sonst noch alles. Fleißig und emsig fährt es fort mit Schneien, will, scheint es, gar nicht wieder aufhören. Alle Farben, rot, grün, braun und blau, sind vom Weiß eingedeckt. Wohin man schaut ist alles schneeweiß. Und still ist es, warm ist es, weich ist es, sauber ist es. Sich im Schnee schmutzig zu machen, dürfte sicher ziemlich schwer, wenn nicht überhaupt unmöglich sein. Alle Tannenäste sind voll Schnee, beugen sich unter der dicken weißen Last tief zur Erde herab, versperren den Weg.

Den Weg? Als wenn es noch einen Weg gäbe! Man geht so, und indem man geht, hofft man, dass man auf dem besten Weg sei. Und still ist es. Das Schneien hat alles Geräusch, allen Lärm, alle Töne und Schälle eingeschneit. Man hört nur die Stille, die Lautlosigkeit, und die tönt wahrhaftig nicht laut.  Und warm ist es in all dem dichten weichen Schnee, so warm, wie in einem heimeligen warmen Wohnzimmer, wo friedfertige Menschen zu irgendeinem feinen lieben Vergnügen versammelt sind. Und rund ist es, alles ist rundherum wie abgerundet, alles Harte, Grobe, Holperige ist mit Gefälligkeit, freundlicher Verbindlichkeit, mit Schnee zugedeckt. Wo du gehst, trittst du nur auf Weiches, Weißes und was du anrührst, ist sanft, naß und weich.

Verschleiert, ausgeglichen, abgeschwächt ist alles. Wo ein Vielerlei und Mancherlei war, ist nur noch eines, nämlich Schnee; und wo Gegensätze waren, ist ein Einziges und Einiges, nämlich Schnee. Wie süß, wie friedlich sind alle mannigfaltigen Erscheinungen, Gestalten miteinander zu einem einzigen Gesicht, zu einem einzigen sinnenden Ganzen verbunden. Ein einziges Gebilde herrscht. Was stark hervortrat, ist gedämpft und was sich aus der Gemeinsamkeit emporhob, dient im schönsten Sinne dem schönen, guten erhabenen Gesamten.

Aber ich habe noch nicht alles gesagt. Warte noch ein wenig. Gleich, gleich bin ich fertig. Es fällt mir nämlich ein, dass ein Held, der sich tapfer gegen eine Übermacht wehrte, nichts von Gefangengabe wissen wollte, seine Pflicht als Krieger bis zu allerletzt erfüllte, im Schnee könnte gefallen sein. Von fleißigem Schneien wurde das Gesicht, die Hand, der arme Leib mit der blutigen Wunde, die edle Standhaftigkeit, der männliche Entschluß, die brave tapfere Seele zugedeckt. Irgendwer kann über das Grab hinwegtreten, ohne dass er etwas merkt, aber ihm, der unterm Schnee liegt, ist es wohl, er hat Ruhe, er hat Frieden und ist daheim.- Seine Frau steht zu Hause am Fenster und sieht das Schneien, und denkt dabei: „Wo mag er sein, und wie mag es ihm gehen? Sicher geht es ihm gut.“ Plötzlich sieht sie ihn, sie hat eine Erscheinung. Sie geht vom Fenster weg, sitzt nieder und weint.

Verschneit liegt rings die ganze Welt
aus op. 69 "Der Jahrkreis"
Worte: Joseph von Eichendorff
am Klavier: O. Dribas


Verschneit liegt rings die ganze Welt, ich hab nichts, was mich freuet, verlassen steht der Baum im Feld, hat längst sein Laub verstreuet.


Der Wind nur geht bei stiller Nacht
und rüttelt an dem Baume,
Da rührt er seine Wipfel sacht
Und redet wie im Traume.


Er träumt von künftger Frühlingszeit,
Von Grün und Quellenrauschen,
Wo er im neuen Blütenkleid
Zu Gottes Lob wird rausch
en.