NEITHARD BETHKE                          WERKVERZEICHNIS - NBWV
  
 


Titelbild der Ausgabe Nr. 5

Emotionale Seelen

zur Uraufführung von Neithard Bethkes „Colloquium viatorum“, op. 113

- von Wolfram Quellmalz -

aus: Musik & Kirche 5/2021, www.musikundkirche.de

Die Person Jacob Böhmes lässt sich noch heute schwer in übliche oder gewohnte historische Lebensbilder pressen, in Erinnerung blieb der gelernte Schuhmacher vor allem als Philosoph und Mystiker. Die Internationale Jacob-Böhme-Gesellschaft ist bestrebt, Werk und Schriften immer wieder in gesellschaftliche und kulturelle Mittelpunkte zu rücken. Im Juni und Juli fanden dazu eine Reihe von Veranstaltungen des Festivals dreyfach leben statt, die Ausstellung „Jakob Böhme und Schlesien“ ist noch bis in den September in der Görlitzer Frauenkirche zu sehen.

Einst war der Hauptpastor der Peter- und Paulskirche Görlitz gegen Böhme wegen dessen Gedankengut und Schriften vorgegangen, hatte gar eine (vorübergehende) Arretierung und ein Schreibverbot erwirkt. Am 13. Juni wurde in der Kirche nun ein Werk des in Görlitz lebenden Komponisten Neithard Bethke nach einem Text Jacob Böhmes uraufgeführt: „Colloquium viatorum“. Darin geht es um nichts weniger als das Seelenheil, um das zwischen hungriger Seele, erleuchteter Seele und dem Teufel gestritten wird. Ein Erzähler ordnet den Verlauf der drei Stimmen, fasst aber auch Teile des Geschehens in längeren Passagen zusammen, während der Chor mit kommentierenden Worten für musikalische Unterstreichungen sorgt.

Der Handlungsraum ist dramaturgisch ausgefeilt, immerhin will der Teufel die hungrige Seele verführen, ihren Glauben erschüttern und verspricht eine falsche Seligkeit. Doch die hungrige Seele erkennt im Gespräch mit der erleuchteten Seele die Gefahr, worüber sie zutiefst erschrickt.

Es geht weniger um Tatsachen oder Taten, denn um Glauben und emotionale Zustände. Neithard Bethke malt diese expressiv aus, so dass seine Musik die Worte nicht nur unterstreicht, nicht nur Stimmungen widergibt, sondern geradezu Teil der Erzählhandlung wird. Er erreicht dies einerseits mit klassischen Affekten, wie einem „züngelnden“ Orgelton in der Passage des Teufels, andererseits in der Form, etwa wenn Choräle nach und nach deutlicher, offensichtlicher werden.

Das kleine Orchester ist mit vielen Instrumenten besetzt, die sich durchaus durchdringend oder laut in Szene setzen lassen. Neben der Orgel und vielen Bläsern (u. a. Saxophon) sorgt eine große Anzahl von Schlagwerken für zarte (Glöckchen) und kräftige Ausmalung. Das stellt die Ausführenden vor manche Aufgaben, denn die Orgel sollte in der Stimmung nicht nur zum Orchester passen (der Einsatz einer kleinen Truhenorgel wäre wohl nicht befriedigend), es gilt auch, sich mit der Akustik des Raumes zu befassen, um instrumentale Leuchtkraft und Hörbarkeit der Stimmen gleichermaßen zu gewährleisten.

In der von uns erlebten zweiten Aufführung am 20. Juni in der Friedenskirche Świdnica waren die Voraussetzungen außerordentlich gut, denn der prachtvolle Innenraum kommt dem Hören zugute. KMD Reinhard Seeliger führte sorgsam durch das Werk, sodass die Solisten (Jana Büchner – Sopran / erleuchtete Seele, Susanne Kupfer – Alt / hungrige Seele, Christian Bild – Tenor / Erzähler und KS Matthias Henneberg – Bass / Teufel) gut verständlich waren. Vor allem berührte die emotionale Gestaltung gerade der beiden Seelen, während Matthias Henneberg die Verführungskraft des Teufels nachdrücklich in Szene setzte.

Der Görlitzer Kammerchor hatte den Abend mit Johann Knöfels „Cantus Choralis“ a cappella eingeleitet, dabei ein klares Klangbild abgegeben und dieses auch „Colloquium viatorum“ zugefügt. Das Orchester und Denny Wilke an der Orgel rundeten den seelenvollen, leidenschaftlichen Eindruck ab.





N. Bethke: Meine kleine Bambusflöte

Titelbild der Notenausgabe

erschienen in "De Liedvriend" 2019 nr. 2, Zeitschrift des Vereins Vrienden van het Lied / www.vvhl.nl

von Dinant Krouwel

Der deutsche Komponist und Kirchenmusiker Neithard Bethke, geboren 1942, hat ein umfangreiches Werk geschaffen. Natürlich gibt es darunter viel Kirchenmusik, aber auch Symphonien, Kammermusik und weltliche Lieder. Er schrieb 1971 den Zyklus "Meine kleine Bambusflöte" für Sopran (h-h"), Flöte und Cembalo. Er besteht aus 23 Liedern in freien Übersetzungen alter chinesischer Poesie ins Deutsche. Die meisten Übersetzungen stammen von Hans Bethge und Manfred Hausmann. Die Kombination von Sopran, Flöte und Cembalo paßt gut zu den oft zarten Gedichten voller Vögel, Flöten, Tränen, Sonne und Gold. Es ist daher nicht ratsam, diese Lieder mit einem Klavier auszuführen. In Bezug auf Harmonie und Stimmführung erinnert Bethkes Musiksprache an Hindemith, ist aber transparenter. Manchmal erklingt in der Begleitung ein Choral und besonders im zweiten Teil ist viel Bach zu hören. Die Instrumentalteile veranschaulichen den Text üppig und sind keineswegs einfach. Das gilt auch für die Singstimme. Der Zyklus besteht nicht nur aus zarten chinesischen Szenen. Es gibt Tanzen, Lachen, lustvolle Liebe und natürliche Gewalt. Es ist ein langer und aufregender Zyklus, aber der Komponist hat kein Problem damit, dass eines oder mehrere Lieder separat aufgeführt werden.

De Duitse componist en kerkmusicus Neithard Bethke, geboren in 1942, heeft al veel werken op zijn naam staan. Daaronder bevindt zich uiteraard veel kerkmuziek, maar ook symfonieën, kamermuziek en wereldlijke liederen. De cyclus Meine kleine Bambusflöte schreef hij in 1971 voor sopraan (b-b"), fluit en clavecimbel. Deze bestaat uit 23 liederen op vrije vertalingen naar het Duits van oude, Chinese poëzie. De meeste vertalingen zijn van Hans Bethge en Manfred Hausmann.

De combinatie van sopraan, fluit en clavecimbel past goed bij de vaak tedere gedichten vol vogels, fluiten, tranen, zon en goud. Daarom is het niet aan te raden deze liederen met piano uit te voeren. Qua harmonie en stemvoering doet de muziektaal van Bethke aan Hindemith denken, maar hij is transparanter. Soms klinkt er een koraal in de begeleiding en vooral in het tweede deel is veel Bach te horen. De instrumentale partijen illustreren de tekst uitbundig en zijn bepaald niet eenvoudig. Dit geldt ook voor de zangstem.

De cyclus bestaat niet alleen uit tere Chinese taferelen. Er wordt gedanst, gelachen, wellustig bemind en er is natuurgeweld. Het is een lange en spannende cyclus, maar de componist heeft er geen moeite mee als een of meer liederen hieruit los uitgevoerd worden.



Titelbild der Notenausgabe

N. Bethke: Das Schiff legt ab

erschienen in "De Liedvriend" 2019 nr.2, Zeitschrift des Vereins Vrienden van het Lied / www.vvhl.nl

von Dinant Krouwel

Vom gleichen Komponisten Neithard Bethke stammt eine Elegie für Sopran (c'-h"), Klarinette und Orgel mit dem Titel "Das Schiff legt ab". Er komponierte dieses groß angelegte und farbenreiche Werk 2006 nach dem visionären und mystischen Gedicht "Überfahrt nach Feuerland" seiner Tochter Agnes Bethke, mit der er 1997 eine Konzertreise durch Südamerika unternahm. Sie wurde zu diesem Gedicht, das man als genial bezeichnen kann, während einer Schifffahrt durch die berühmte und berüchtigte Magellanstraße inspiriert. Neithard Bethke schrieb eine anregende, schaurige und hymnische Komposition, so fantasievoll wie eine Mahler-Symponie. Der Verlag gibt 40 Minuten als Dauer an. Orgel und Klarinette spielen große Teile rein instrumental ohne Vokal-Stimmenpart. 

Van dezelfde Neithard Bethke verscheen een elegie voor sopraan (c'-b"), klarinet en orgel met als titel Das Schiff legt ab. Hij componeerde dit groots opgezette werk in 2006 op het gedicht Überfahrt nach Feuerland van zijn dochter Agnes Bethke, met wie hij in 1997 een concertreis maakte door Zuid-Amerika. Tijdens een bootexcursie door de beroemde en beruchte Straat van Magellaan werd zij geïnspireerd tot dit gedicht. Bethke schreef een evocatieve, huiveringwekkende en hymnische compositie als een Mahler-symfonie. De uitgever geeft als tijdsduur veertig minuten aan. Orgel en klarinet hebben grote stukken samen zonder zangstem.



Titelbild der Notenausgabe

César Franck
Symphonie d-Moll, Bearbeitung für große Orgel (solo)
von Neithard Bethke
Edition Merseburger 1857, erschienen in organ 1/2018, © Schott Music, Mainz 2018

von Felix Friedrich


Vor wenigen Jahrzehnten noch galt die Bearbeitung respektive Transkription originaler Kompositionen für andere instrumentale oder vokale Besetzungen als verpönt. Inzwischen hat sich eine grundlegende Wandlung vollzogen. Alles ist grundsätzlich möglich, aber gewiss ist im Einzelfall nicht alles sinnvoll oder ästhetisch überzeugend. Es gibt jedoch auch eine ganze Palette an Stücken, die den Bearbeiter aus sich selbst geradezu dazu aufrufen und ermuntern, Notenpapier und Bleistift zu zücken. Dazu zählen beispielsweise – wie inzwischen mehrfach geschehen – die Sinfonien des österreichischen Komponisten (und Organisten!) Anton Bruckner. Jetzt gesellt sich dank der Initiative des langjährigen Ratzeburger Domorganisten Neithard Bethke mit einer weiteren Ausgabe auch der „Vater der französischen Orgelsymphonie“ und Orgelmeister von Sainte-Clotilde in Paris hinzu: César Franck (1822–90). Eine Bearbeitung seiner einzigen Orchestersinfonie in d-Moll, so Bethke im Vorwort zur vorliegenden Edition, ergebe sich „fast von alleine“.

Dass dem so ist, liegt natürlich an der Struktur dieses späten Meisterwerks von Franck und vielleicht auch daran, dass er speziell dieses Opus sehr orgelmäßig im orchestralen Stil des „Orgue symphonique“ seines genialen Pariser Orgelbauzeitgenossen Aristide Cavaillé-Coll (1811–99) empfunden hat, zumal dessen Orgeln als klangästhetische Inspirationsquelle einen zentralen Platz im Leben und Schaffen Francks einnahmen. Als er die Orchestersinfonie 1888 beendete, lagen die überwiegenden Teile seines Orgelschaffens ebenfalls vor. Lediglich die drei großen Choräle César Franck Symphonie d-Moll Bearbeitung für große Orgel (solo) von Neithard Bethke Edition Merseburger 1857 entstanden erst kurz danach gewissermaßen als „musikalisches Testament“.

Mit der Transkription auf die Orgel fügt Neithard Bethke dem französischen spätromantischen Repertoire für die Orgel sozusagen ein anspruchsvolles und gewichtiges weiteres Werk des Großmeisters hinzu. Insofern stellt seine Edition absolut einen Gewinn für die Organisten zunft dar. Bethkes Transkription ist über viele Jahre hinweg gereift – und dies spürt man beim Studium der Orgelpartitur. Er hält sich soweit als möglich, an die originale Notation und Artikulation, die Franck übrigens sehr minutiös in seine Orches terpartitur eintrug und bei der man sozusagen auf Schritt und Tritt im Einzelnen nachvollziehen kann, dass Franck beim Komponieren vielfach den spezifischen symphonischen Orgelklang im Ohr hatte. Tremoli der Streicher oder Tonrepetitionen in Sechzehntel- Werten wandelte Bethke sehr geschickt in Achtelgruppen um, so dass der gesamte Orgelsatz ohne Probleme bestens spielbar bleibt und keine unüberwindbaren technischen
Hürden aufweist.

Auch die dynamische Zeichensetzung Francks behielt Bethke bei und nahm daran anknüpfend die detailliert notierte Aufteilung der Klaviaturen für eine dreimanualige, französisch-symphonisch ausgelegte Disposition vor. Dabei vermerkte er – und das ist ein weiteres Plus der Ausgabe – fast durchweg in Klammern die jeweilige Orchestergruppe in der Originalfassung, seien es Streicher, Solobläser, Harfe oder das Blech, so dass jeder Organist seine Registrierung problemlos danach adaptieren bzw. je nach Dispositionsvoraussetzung erweitern kann, ohne vorher die Orchesterpartitur studieren und analysieren zu müssen. Trotzdem dürfte es eine einigermaßen zeitaufwendige Aktion bleiben, die rund vierzigminütige Sinfonie („I. Lento – Allegro non troppo“, „II. Allegretto“, „III. Allegro non troppo“) auf der Orgel einzurichten, selbst wenn man auf moderne Setzerkombinationen zurückgreifen kann. Andernfalls wäre mindestens ein (versierter!) Registrant unumgänglich. Die gängigen Klaviaturumfänge einer großen, romantisch- symphonischen Orgel (im Manual bis g3 im Diskant) werden in keinem Fall überschritten. Das Pedal, ab und zu nur in der 8-Fuß- Lage bzw. in einigen exponierten Passagen im Doppelpedal notiert, übernimmt durchweg die Funktion der Bassgruppe des Orchesters.

Das Notenbild der als Ringheftung realisierten Edition ist sehr übersichtlich, gut lesbar gestaltet und gewissenhaft erarbeitet. Franck’sche Tempoangaben erscheinen in einigen Fällen leicht modifiziert. So wurde aus dem „Tempo come avanti“ im dritten Satz oder aus dem „Tempo stretto come avanti“ im Takt 125 des zweiten Satzes ein „L’istesso tempo“.

Einige wenige überflüssige Angaben stellen absolut keinen Qualitätsverlust dar (so fragt sich der Benutzer, warum in Takt 473 des ersten Satzes überflüssigerweise in Klammern der Vermerk „d-Moll“ steht, obwohl die harmonische Situation eher nach g-Moll bzw. BDur tendiert; oder warum der Hinweis „linke Hand“ im Takt 242 des ersten Satzes eingefügt wurde, da die Noten ohnehin im zweiten System notiert sind?). Etwas störend wirken die entgegen der üblichen Editionspraxis sich vor allen Akkoladen permanent wiederholenden Bezeichnungen „Org.“ und „Ped.“

Ein kurzes Vorwort (in Deutsch und Englisch) ist der Ausgabe vorangestellt. Vielleicht wären einige zusätzliche (hier gänzlich fehlende) Angaben zur angewandten Editionstechnik und ein Hinweis auf die Gesamtkonzeption der Bearbeitung ebenfalls sinnvoll gewesen. Doch diese und andere Kleinigkeiten sollen nicht mit einer Beckmesserei über diese Ausgabe den Stab brechen. Ganz im Gegenteil: Neithard Bethkes op. 75 ist rundum sehr zu begrüßen. Es bleibt zu hoffen und zu wünschen, dass dieser Fassung der breite Erfolg, welcher Franck bei der Uraufführung seiner bedeutenden Sinfonie in Paris seinerzeit zunächst versagt blieb, auf der Orgel künftig gleichwohl beschieden sein wird.



Titelbild der Notenausgabe

Neue Editionsreihe im Merseburger Verlag

von Angelika Horstmann

Musikarchiv des Ratzeburger Doms

 

Nach wie vor sind Kirchen und ihre Archive Fundstätten musikalischer Raritäten. Hierzu gehört auch eine Sammlung von musikalischen Handschriften im Ratzeburger Dom aus der Zeit zwischen 1750 und 1800, die der Musikwissenschaftler Professor Neithard Bethke in ihrem Wert erkannte und dem Merseburger Verlag nun für eine neue Editionsreihe anbot. Der frühere Leiter der Lübecker Musikbibliothek, Dr. Georg Karstädt, hatte bereits eine grobe Bestandsaufnahme der Sammlung vorgenommen. Sie war unvollständig und zum Teil fehlerhaft, weil ihm nicht alle Quellen zugänglich waren. Neithard Bethke machte sich nach seiner Ernennung zum Domorganisten und Kapellmeister am Ratzeburger Dom an die langwierige Arbeit, diese Handschriften zu sichten, zu ordnen und systematisch zu katalogisieren. Die so wieder zu einer übersichtlichen Sammlung gewordene Bibliothek umfasst Manuskripte von Kirchenkantaten, deren Komponisten zu ihrer Zeit bekannt oder sogar berühmt waren. Dazu gehörten Johann Christoph Altnikol, Johann Adolph Hasse, Georg Philipp Telemann, Johann Trier, Gottfried Heinrich Stölzel, Christian Gotthilf Tag und Johann Christian Stössiger. Begeistert von diesem Fundus entschloss sich Bethke, die Kantaten dem Vergessen zu entreißen und sie nach und nach in der von ihm gegründeten Reihe der alljährlichen Ratzeburger Dommusiken aufzuführen.

Über die Entstehungsgeschichte der Sammlung lässt sich nur mutmaßen. Allerdings war es in der Zeit zwischen 1750 und 1850 nicht unüblich, dass Fürstenhäuser, Gemeinden großer Hauptkirchen, leistungsfähige Chöre und Kantoreien zu besonderen Anlässen bei den zeitgenössischen Komponisten eigens Werke bestellten. Bleistifteintragungen auf den Deckblättern der Kantaten, wie „aufgeführet am Pfingstsonntag 1801“ oder „Triinitas 1802“, verdeutlichen, dass die Kantaten zum überwiegenden Teil für den gottesdienstlichen Rahmen bestimmt waren. Die vielen Unika von Kantaten, zu denen bislang nirgendwo weitere Abschriften oder Vorlagen auffindbar sind, weisen darauf hin, dass sie bei ihrem Komponisten ganz direkt zu einem bestimmten Tag für die Kirchenmusik am Ratzeburger Dom bestellt wurden. Ein bereits in dieser Zeit übliches Finanzierungsmodell für Editionen war die Subskription. Die Subskribenten erhielten vom Komponisten ein Exemplar von jedem neuen Werk.

Der Ratzeburger Dom hatte in den Jahren zwischen 1750 und 1810 zwei aktive und fähige Kantoren, die auch als Musiklehrer an der Domschule angestellt waren. Der Chor der Domschule war gleichzeitig der Domchor. Auch ein Orchester wurde aus dem Kreis Schüler gestellt. Offensichtlich stand ein umfangreiches Instrumentarium zur Verfügung, wie sich aus der oft anspruchsvollen Besetzung der Kantaten für Flöten, Oboen, Fagotte, Hörner, Trompeten, Pauken, Orgel und Streicher schließen lässt. Damals wie heute wurden die gottesdienstlichen Aufführungen mit eigenen Kräften realisiert. Folglich hat es in den angegebenen ca. 50 Jahren eine niveauvolle und vielfältige Dommusik in Ratzeburg gegeben, die in ihrer ganz außerordentlichen Qualität ohne Beispiel in der Region gewesen ist.

Diese im besten Sinne Gebrauchsmusiken bieten eine lebendige und fruchtbare Bereicherung des bisherigen Repertoires gerade der Kirchenmusik aus der Zeit zwischen Barock und Romantik. Sie eignen sich insbesondere für Laienchöre, da sie leicht zu singen sind. Ihre Frische und musikalische Aussagekraft können von Hörerenden wie Ausführenden gleichermaßen unmittelbar verstanden werden. „Darum „Singet dem Herrn erneut ein Lied mit alten Tönen“, denn diese haben, obwohl lange im Dom vergraben, verstaubt und vergessen, nichts von ihrer zupackenden Unmittelbarkeit und Ausdruckskraft verloren.“ (Bethke) 


Titelbild der Notenausgabe


Crucifixus,op. 25

Beeindruckende Uraufführung im Berliner Dom

Verlag Merseburger

Mit der Fertigstellung seines „Crucifixus“ op 25 hat Neithard Bethke (Jg. 1942) der Musikwelt ein eindrucksvolles abendfüllendes Oratorium zum Karfreitag geschenkt. Am 28. März erklang die Uraufführung der überarbeiteten und stark erweiterten Fassung des Werkes unter der Leitung von Tobias Brommann im Berliner Dom. Es sangen Christina Roterberg -Sopran, Uta Runne -Alt, Volker Arndt -Tenor, Martin Schubach -Bass, die Berliner Domkantorei, der Mädchenchor der Singakademie zu Berlin (Einstudierung Friedrike Stahmer) und es spielte das Deutsche Filmorchester Babelsberg.


Das „Crucifixus“ ist der dritte Teil der Oratorien-Trilogie Bethkes. Es komplettiert den aus „Media vita in morte sumus“ op. 23 (Totengedenken) und „Christus natus est hodie“ op. 24 (Weihnachten) bestehenden Zyklus. Hilfreich und gerne angenommen von ca. 200 BesucherInnen war die Werkeinführung vor Beginn des Konzerts. Domkantor Tobias Brommann erläuterte den musikalischen Aufbau des Werkes, durch einige Projektionen medial unterstützt. Der anwesende Komponist ergänzte die Erklärungen und bedankte sich schon vorab für das Engagement des Domkantors und seines Chores bei der Vorbereitung der Aufführung. Die jahrzehntelange Verbundenheit von Lehrer und Schüler trug in der vorbereitenden halben Stunde wesentlich zu der im Konzert spürbaren Atmosphäre des Verstehens und Sich-Einlassens des Publikums auf die Komposition bei.

Das Oratorium verläuft in zwei musikalischen Strängen. Die Passionsgeschichte wird von Solisten und Chor in 9 Bildern erzählt. Am Ende eines jeden Bildes und im Übergang zum nächsten Abschnitt rückt der Choral „Herr Jesu, deine Angst und Pein“ in den Mittelpunkt rückt. Die Gemeinde (Konzertbesucher) ist eingeladen, diesen zu singen, während den Solisten unter wirkungsvoller Beteiligung des Chores eine vertonte Fassung des Vaterunsers zugeschrieben ist. Ein Rezitator (…) skandiert das gregorianische „Crucifixus natus est pro nobis“, gefolgt vom Kinderchor, der das pietistische Geistliche Volkslied „Hohes heil’ges Marterbild, sei in aller Not mein Schild“ vorträgt. Die Periodizität dieses Aufbaus nimmt den Hörer gefangen und lässt ihn überraschend zum Mitleidenden werden. Anders als in den bekannten Vertonungen der verschiedenen Passionstexte führt Bethke die Auseinandersetzung in diesem mit dem Sterben Jesu in seinem „Crucifixus“ über Tod und Grablegung Jesu hinaus. Ein den neun Teilen folgender Abschnitt mündet ein in die Auferstehungs- und Osterhistorie; ein Hoffnung gebender Schluss mit dem Blick auf die im christlichen Verständnis durch Jesu Sterben liegende Erlösung der Menschheit, die Auferstehung als zentralen Glaubensinhalt der Christenheit.

Bethkes Musik ist inspiriert vom Text und dessen Glaubensinhalt, zugleich Ausdruck seiner eigenen religiösen Überzeugung. Die Harmonik hat ihre Schärfen dort, wo es der Text verlangt. Die Hörergemeinde findet sich eingebettet in moderate zeitgenössische Klänge, die nicht überfordern. Bethkes Sprache nimmt die Menschen mit hinein in die Geschichte. Indem er sie einlädt zum Mitsingen, gibt er ihnen die Möglichkeit, an der Entwicklung des Werkes teilzunehmen, es von innen heraus zu erleben. Der Choral, der Vers für Vers gesungen wird in den Übergangsabschnitten zwischen den Passionsbildern, wird dabei zum Wiedererkennungsmerkmal, das zunehmend Sicherheit vermittelt im Umgang mit der Komposition und im Sinne des Glaubens Zuversicht gibt.

Der Anteil des Chores am musikalischen Gesamtgeschehen ist beträchtlich. Mit Ausnahme einer Sopran-Arie im achten Bild, die dem Sterben Jesu folgt, ist der Chor an allen Bildern beteiligt. Ihm kommt nicht nur wie üblich die Aufgabe zu, Volkes Stimme zu vertreten, vielmehr ist ihm vor allem die Rolle Jesu zugeschrieben; für Bethke eine fundamentale Aussage, da ihm die Darstellung durch einen Sänger allein die Bedeutung des menschgewordenen Gottessohnes nicht ausreichend wiedergibt. Die schon benannten harmonischen Schärfen sind realisierbar und der Tonumfang sowie die Melodieführung empfehlen das Werk für mittelgroße bis große Laienchöre. Gesteigerte Anforderungen müssen die Solisten erfüllen. Die thematisch-motivische Gestaltung ihrer Partien bedingt zum Teil schwierige harmonische Passagen. Die Stimmführung belegt jedoch eindrucksvoll, dass Neithard Bethke die Möglichkeiten und Grenzen der menschlichen Stimme genau kennt.

Tobias Brommann erwies sich in Interpretation und Ausgestaltung des Werkes sowie der Leitung des großen Aufführungsapparates als souveräner Dirigent. Der stimmbildnerisch gut geschulte Chor folgte dem Dirigat in allen Nüancen und konnte setzte sich klanglich stets gegenüber dem Orchester durch. Dieses musizierte mit angenehmer Leichtigkeit und unter Vermeidung fetter Klänge transparent. Alle Beteiligten waren stets präsent, verlässlich in der Gestaltung ihrer jeweiligen Partien und musikalisch absolut überzeugend. Einzelne Leistungen zu beschreiben würde der wunderbaren Gesamtleistung des Ensembles nicht gerecht. Dennoch sei der Mädchenchor erwähnt, der stimmlich und gestalterisch hervorragend agierte.

Karfreitäglichen Charakter erhielt die Aufführung, als zum Zeitpunkt der musikalischen Hinwendung in Richtung Auferstehungshistorie der Strom ausfiel und für eine Viertelstunde ausschließlich das Notlicht im großen Kirchenraum brannte. Mit unerschütterlicher Ruhe warteten alle Ausführenden die Wiederherstellung der Stromversorgung ab. Es gelang Tobias Brommann diese unerwartete Dramaturgie mit der erforderlichen Spannung zu überbrücken und das Werk stimmungsvoll zum Ende zu führen. Auf Bitten Brommanns wurde nicht applaudiert. Vielmehr erhob sich das Publikum nach dem Verklingen des letzten Tons und erwies allen InterpretInnen und dem Komponisten mit minutenlanger Stille Wertschätzung und Anerkennung der großartigen Leistung aller Beteiligten.