NEITHARD BETHKE                          WERKVERZEICHNIS - NBWV
  
 

KLEINE AUSZEIT ZUM NEUEN JAHR

Ein Raum für Andacht, Geist und Seele


Dietrich Bonhoeffer - Von guten Mächten wunderbar geborgen

Der Mensch lebt notwendig in einer Begegnung mit anderen Menschen, und ihm wird mit dieser Begegnung in einer je verschiedenen Form eine Verantwortung für diesen Menschen auferlegt.

 

Am 4. Februar 1906 wird in der Straße Birkenwäldchen 7 (ul. Bartla Kazimierza) in Breslau ein Zwillingspärchen geboren. Die Geschwister Paula und Dietrich Bonhoeffer leben die ersten Jahre ihrer Kindheit in Wroclaw, nahe des heutigen Park Szczytnicki und direkt an einem Nebenfluß der Oder. Es ist eine sehr musikalische Familie, auch Dietrich Bonhoeffer erlernte das Klavierspielen. Im Jahr 1912 übernimmt der Vater Karl Bonhoeffer die Leitung der Berliner Universitäts-Nervenklinik, die Familie zieht nach Berlin. Dietrich Bonhoeffer wächst heran und wird einer der bedeutendsten Theologen Deutschlands. Er wendet sich früh gegen die Ideologie der Nationalsozialisten und warnt schon im Januar 1933, zwei Tage nach der Machtergreifung Hitlers, in einer Radioansprache vor den Gefahren des Führerprinzips - aus einem "Führer" könne sehr leicht auch ein "Verführer" werden.

Dietrich Bonhoeffer unternimmt viele Auslandsreisen. Mit der Einführung des Arierparagraphen 1933 geraten viele Pfarrer mit jüdischen Wurzeln in Schwierigkeiten, Bonhoeffer gründet gemeinsam mit Martin Niemöller und anderen den "Pfarrernotbund", aus dem später die Bekennende Kirche in Deutschland hervorgeht. Er beginnt, sich weltweit zu vernetzen und kehrt 1935 nach Deutschland zurück, um den Pfarrernachwuchs der Bekennenden Kirche auszubilden. Das geschieht zunächst in Zingst und Finkenwalde, wo Predigerseminare stattfanden. 1937 werden diese Seminare durch die Gestapo geschlossen, Bonhoeffer lehrt weiter in illegalen "Sammelvikariaten".  Glaube, Theologie und Leben gehörten für Bonhoeffer untrennbar zusammen, er schrieb einmal, „dass eine Erkenntnis nicht getrennt werden kann von der Existenz, in der sie gewonnen ist“.

Im Januar 1943 verlobte sich Dietrich Bonhoeffer mit Maria von Wedemeyer. Die beiden sollten sich nur noch bei Besuchen Marias im Gefängnis wiedersehen, denn schon kurz darauf, im April 1943 wird er verhaftet in kam in das Gefängnis in Berlin-Tegel. Durch seine enge verwandschaftliche Beziehung zu Hans von Dohnanyi wußte er schon früh von den Umsturzplänen gegen Adolf Hitler. Weil die Verschwörungspläne jedoch noch nicht vollständig aufgedeckt waren, entschied er sich, in den Verhören zu lügen. „Wahrheit“ bedeutet für Bonhoeffer nicht unbedingt, dass der Inhalt der Worte den Tatsachen entsprechen muss, sondern kann auch heißen, ein Geheimnis zu wahren. Man müsse die konkrete Situation beachten und für das eigene Reden Verantwortung übernehmen: „Jedes Wort soll seinen Ort haben und behalten.“

Bonhoeffer hielt während seiner Inhaftierung einen umfassenden Briefwechsel an seine Eltern, seinen Freund Eberhard Bethge und seine Verlobte Maria von Wedemeyer aufrecht. Während der gesamten Haftzeit in Berlin schreiben sie sich Briefe. Berühmt geworden ist das Gedicht „Von guten Mächten“, dass er Maria und seiner Familie zum Jahreswechsel 1944/45 schickt. Veröffentlicht wurden alle Briefe später in den Bänden „Widerstand und Ergebung“ (1951) und „Brautbriefe Zelle 92“ (1992).

Am 9. April 1945 wird Dietrich Bonhoeffer gemeinsam mit Wilhelm Canaris, Hans Oster, Ludwig Gehre und Karl Sack, ebenfalls Beteiligte am militärischen Widerstand, im Konzentrationslager Flossenbürg durch Erhängen getötet.

 

„Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage so viel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im Voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen. In solchem Glauben müsste alle Angst vor der Zukunft überwunden sein.“ (Bonhoeffer zum Jahreswechsel 1942/1943 an seine Weggefährten)



Neithard Bethke verfaßte 1962 die hier eingespielte Melodie. Sie liegt zunächst seinem Orgelwerk "Fantasie c-moll",  op. 5 zugrunde und wurde später nochmals in der Motette "Von guten Mächten" op. 7

Fantasie c-moll für Orgel, op. 5/1964                                                                                                                                             

über eine eigene Choralmelodie zu „Von guten Mächten“ (Dietrich Bonhoeffer)
EM 1838  |  ISMN 979-0-2007-1637-5
Durchsichtige kammermusikalische Ritornelle trennen die einzelnen Choralvariationen, die von einer blitzenden Toccata bis hin zu meditativen Gebetsklängen die farben- und formenreiche Palette von interessanten Möglichkeiten einer Choralfantasie ausnutzen.


Von guten Mächten treu und still umgeben, op. 7/1965

Choralkantate nach Worten von Dietrich Bonhoeffer für Sopransolo, Chor, konzertierende Orgel und Instrumente (Flöte, Violine, Violoncello, weitere ad lib.)
EM 963 | ISMN 979-0-2007-3097-5   Dauer: 13 min

Die Kantate op. 7 bedarf der Minimalbesetzung eines (sehr guten) Organisten, eines vierstimmig besetzten gemischten Chores und einer Solosopranistin. Damit ist bereits eine vollgültige Aufführung möglich. Nach alter Kantoreipraxis können Chorstimmen farbig instrumentiert werden mit den Instrumenten, die in der Kantorei gerade zur Verfügung stehen. (zum Hörbeispiel unter "Kantaten und Motetten")




www.ekd.de, www.bonhoeffer-initiative.com

"Von guten Mächten" (aus op. 68 "Sammlung von zehn neuen Kirchenliedmelodien"); Neithard Bethke an seinem Konzert- Harmonium der Estoy Organ Company (Battleboro, Virginia/USA, Baujahr 1921)

Von guten Mächten treu und still umgeben,                      behütet und getröstet wunderbar,
so will ich diese Tage mit euch leben                                      und mit euch gehen in ein neues Jahr.


Noch will das alte unsre Herzen quälen,
noch drückt uns böser Tage schwere Last.
Ach Herr, gib unsern aufgeschreckten Seelen
das Heil, für das du uns geschaffen hast.

Und reichst du uns den schweren Kelch, den bittern
des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand,
so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern
aus deiner guten und geliebten Hand.

Doch willst du uns noch einmal Freude schenken
an dieser Welt und ihrer Sonne Glanz,
dann wolln wir des Vergangenen gedenken,
und dann gehört dir unser Leben ganz.

Lass warm und hell die Kerzen heute flammen,
die du in unsre Dunkelheit gebracht,
führ, wenn es sein kann, wieder uns zusammen.
Wir wissen es, dein Licht scheint in der Nacht.

Wenn sich die Stille nun tief um uns breitet,
so lass uns hören jenen vollen Klang
der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet,
all deiner Kinder hohen Lobgesang.

Von guten Mächten wunderbar geborgen,
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist bei uns am Abend und am Morgen
und ganz gewiss an jedem neuen Tag.








KLEINE AUSZEIT ZUM WEIHNACHTSFEST


 

Weihnachten im Hause Jochen Kleppers

"Die Sitte ohne den Glauben ist ja doch eine Kerze, die nicht angezündet ist."

Hob sich im Leben des Klepperschen Hauses schon jeder Sonntag deutlich vom Alltag ab, so war das Begehen der kirchlichen Feste noch tiefer und reicher an Erlebnisgehalt.  Besonders anschaulich berichtet Jochen Klepper in seinem Tagebuch von den Weihnachtsfesten. Mit den seinen bereitet er sich jedes Jahr gewissenhaft auf dieses Fest vor. Neben dem Ernst der inneren Vorbereitung stand, in seinem Wesen begründet, das Bedürfnis Jochen Kleppers, das Fest in Schönheit zu feiern. So erhielt auch die äußere Zurüstung ihre Betonung , denn die feierlichen Tage sollten ohne Unruhe und Störung begangen werden.

"Erst um Mitternacht ist der Baum geschmückt. Und schon heute läuten von der Dämmerung an viele Glocken bis in den späten Abend hinein. Wir haben alles so vorbereitet, dass der Tag des Heiligen Abends ohne alle Unrast sein wird. - Die schönsten Dinge ergeben sich unversehens: für die große Madonna mit dem Kind war nur ein Platz im Weihnachtszimmer frei. Nun blickt sie gerade auf den Christbaum, das Kind reicht die Weltkugel zum Baum hinüber." (...)

"Man macht sich leicht den Vorwurf, sich in die pittoresken Dinge des Weihnachtsfestes zu verlieben. Aber es steht doch mehr dahinter, wenn man die lieben Züge jeder Stunde festhalten möchte: nämlich das Erstaunen, dass nach allen Leiden und Zerstörungen eines Jahres soviel Freude, Wärme, Behagen, Glanz wiederkehrt. Die Sphäre der Sitte und des Glaubens stehen nicht gegeneinander: das Fest des Glaubens duldet auch das andere; die tiefere, schwerere, feste Schicht des Glaubens duldet auch die zartere leichtere.

Die Sitte ohne den Glauben ist ja doch eine Kerze, die nicht angezündet ist. Das Fest der Sitte appelliert an die Vergebung. Das des Glaubens besitzt sie.

Das drückt alle Nähe und Unterscheidung der beiden Feste aus. Ich kann nicht sagen, dass ich Weihnachten religiöser gestimmt wäre als sonst. Aber das die Bibelworte, von denen ich das ganze Jahr über lebe, mich plötzlich von überall her umgeben: das führt die beiden Feste zusammen, so dass ich keinen Versuch der Überbrückung zu machen brauche."

aus: Jochen Klepper, Dichter und Zeuge, Ein Lebensbild gestaltet von Ilse Jonas






KLEINE AUSZEIT ZUM 4. ADVENT

Weihnachtslied "Unter einem Lindenbaum" (aus op. 69 "Der Jahrkreis"); Neithard Bethke an seinem Saßmann-Cembalo

"Unter einem Lindenbaum", Orlando-Ensemble

Unter einem Lindenbaum, hörst du, liebes Kind - Steht ein Stall im Flockenfall, und es weht der Wind.

In dem Stalle warm und klein, hörst du liebes Kind - Stehen um ein Kripplein fein Esel, Pferd und Rind.

In dem Kripplein weich und warm, hörst du, liebes Kind - Liegt ein Kindlein wundersam. Ist das Christuskind.


Rainer Maria Rilke - Der Abend kommt von weit gegangen

Der Abend kommt von weit gegangen durch den verschneiten, leisen Tann.
Dann presst er seine Winterwangen an alle Fenster lauschend an.
Und stille wird ein jedes Haus; die Alten in den Sesseln sinnen,
die Mütter sind wie Königinnen, die Kinder wollen nicht beginnen
mit ihrem Spiel. Die Mägde spinnen nicht mehr. Der Abend horcht nach innen,
und innen horchen sie hinaus.


Wir gehen auf eine besondere Zeit im Jahr zu. Die Advents- und Weihnachtszeit lässt nicht nur Kinderherzen höherschlagen. Aber so, wie es derzeit aussieht, prallen Gegensätze aufeinander. Auf der einen Seite unsere Vorstellungen, wie Weihnachten zu sein hat: Mit einer Christvesper in der Kirche; mit dem Beisammensein mit unseren Lieben aus nah und fern. Mit Konzerten und Weihnachtsmärkten. Auf der anderen Seite fällt vieles davon aus, scheint alles noch unsicher zu sein. Ungewissheit herrscht und beherrscht uns auch manchmal.

In manchen ähnelt es interessanterweise der ursprünglichen Weihnacht: Was lief da nicht alles drunter und drüber! Geplant war da das wenigste, Spontanität von Nöten und wirklich Ruhe hat sich vermutlich erst eingestellt, als Hirten und Könige anbetend an der Krippe standen. Ein Moment lang stand alles still und ehrfürchtig – bevor sich alle wieder in ihre Richtungen aufmachten. An diese „unruhige Bewegtheit“ des ersten Weihnachtsfestes denke ich jetzt manchmal. Und daran, dass es in der Krippe den Ruhepol gibt, um den sich alles dreht: in dem Gottes Schönheit, seine Menschennähe und auch seine Verletzlichkeit erscheint. Die Unruhe, die Bewegtheit unserer Zeit, das Unvorhergesehene – es muss uns nicht zwingend von Gott entfernen. Es kann uns auch näher zu ihm hinführen, unseren Glauben neu erschließen.

Ich wünsche Ihnen trotz allem, was dieses Fest ungewohnt und vielleicht sogar schwer macht, dass Sie Gottes Nähe tröstend, stärkend so nah an sich spüren wie die Hirten und die Könige das Jesuskind. Jesus wird geboren. „Weihnachten sagt uns: Gott holt uns ab, gleichgültig, wo wir stehen.“

Pfarrer Jonathan Hahn, ev.-luth. Kirchgemeinde Bernstadt (OL)

Adventslied "O Menschensohn voll Lieb und Macht" (aus op. 68 "Sammlung von zehn neuen Kirchenliedmelodien"); Neithard Bethke an seinem Saßmann-Cembalo

O Menschensohn voll Lieb und Macht, o ewges höchstes Leben,
Hast oft schon Funken angefacht, und Sterbekraft gegeben!
O Himmelsgast, steig wieder zum Tränentale nieder.

Komm nieder aus der Jungfrau Schoß, o Kind aus Himmelsauen!
Es sehnt sich Alles, Klein und Groß, ins Antlitz dir zu schauen.
Und alles will genesen an deinem Wunderwesen.

Wie damals schon in alter Zeit die Menschheit lag gebunden,
Des Paradieses Herrlichkeit von hinnen war geschwunden,
Als du sie zu entsühnen auf Erden warst erschienen.

Wir haben oft auf unsrer Bahn wie Simeon gebetet;
Wir blicken alle himmelan ob sich der Osten rötet;
Komm denn im alten Liede auf Erden Freud und Friede!


KLEINE AUSZEIT ZUM 3. ADVENT

Hildegard von Bingen - Die Seele ist wie ein Wind

Die Seele ist wie ein Wind, der über die Kräuter weht, wie der Tau, der über die Wiesen träufelt, wie die Regenluft, die wachsen macht. Desgleichen ströme der Mensch ein Wohlwollen aus auf alle, die da Sehnsucht tragen. Ein Wind sei er, der den Elenden hilft, ein Tau, der die Verlassenen tröstet. Er sei wie die Regenluft, die die Ermatteten aufrichtet und sie mit Liebe erfüllt wie Hungernde.


Im Jahr 1106 wird die kleine Hildegard - gerade 8 Jahre alt - von ihren Eltern Hildebert und Mechthild von Bermersheim zur Erziehung in ein Kloster gegeben. Sie wird in der "Regula Benedicti" unterrichtet und erhält eine umfassende Ausbildung in der Liturgie und in Teilen der „Artes Liberales“ (Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Astronomie, Musik und Grammatik). Im Jahr 1150 gründet sie ein Frauenkloster auf dem Rupertsberg bei Bingen, dem sie bis zu ihrem Tode 1179 als Äbtissin vorsteht. Der Zeitgenosse Wibert von Gembloux schildert im Jahre 1177 das Anwesen so: „Dieses Kloster ist nicht von einem Kaiser oder Bischof, einem Mächtigen oder Reichen der Erde, sondern von einer armen, zugezogenen, schwachen Frau gegründet worden. Innerhalb kurzer Zeit, seit 27 Jahren hat es sich sowohl dem monastischen Geist als auch dem äußeren Aufbau nach so hoch entwickelt, dass es nicht durch prunkvolle, aber durch stattliche und geräumige Gebäude … in allem wohl bestellt ist.‘ 

In der Mitte ihres Gesamtwerkes steht die visionäre Trilogie des "Scivias" (Wisse die Wege), des "Liber vitae meritorum" (Buch der Lebensvergeltung) und des "Liber divinorum operum" (Buch der Gotteswerke). Die hier formulierten visionären Bilder zeigen sich in ihrem ganzen Schaffen. Im Singspiel "Ordo virtutum" werden sie beispielsweise in allegorischen Figuren zum Leben erweckt. Zu Hildegards natur- und heilkundlichen Schriften zählen der "Liber simplicis medicinae" (Buch von der einfachen Medizin) und der "Liber compositae medicinae" (Buch von der zusammengesetzten Medizin). Hildegard hat eine umfangreiche Korrespondenz hinterlassen, durch die sie mit Kaisern, Päpsten, Bischöfen und auch einfachen Menschen in Verbindung stand.

Als Hildegard von Bingen zwischen 1160 und 1170 mehrere Reisen unternahm, um in den größeren Städten des Reiches noch rechtzeitig vor dem von ihr angenommenen, drohenden Weltuntergang ihre Stimme mahnend gegen den pflichtvergessenen Klerus, den einflussreichen ersten Stand der mittelalterlichen Ständegesellschaft und zuständig für das Seelenheil der Menschen, zu erheben, da befand sie sich in der Endphase ihres Lebens. Zu Fuß, mit Pferd, Schiff oder Kutsche war die Binger Äbtissin unterwegs nach Mainz, Würzburg, Bamberg, Lüttich oder Metz und legte pro Tag durchschnittlich 25 bis 30 Kilometer zurück. In Trier und Köln wandte sie sich vorwurfsvoll an den Klerus, der – mit verheerenden Folgen für den Menschen –  in der Ausübung seiner geistlichen Aufgaben versagen würde: „Ihr seid Nacht, die Finsternis atmet, ein halsstarriges Volk, das vor lauter Wohlstand nicht mehr im Lichte wandelt […] Ihr seht nur das, was ihr selbst produziert habt; ihr tut und lasst nur, was euch grad gefällt […]. Ihr habt nicht mal Augen im Kopf, weil eure Werke den Menschen nicht leuchten im Feuer des Heiligen Geistes; ihr seid nicht imstande, das gute Beispiel vorzuleben. Wie die Winde über den Erdkreis dahinstürmen, so solltet ihr ein geistiger Sturm sein […]. Mit eurem leeren Getue aber verscheucht ihr bestenfalls im Sommer einige Fliegen.“

Im Jahr 1179 stirbt Hildegard von Bingen - sie hinterläßt ein bis dahin beispielloses literarisches Werk.


Die Seele ist im Körper wie der Saft im Baume, und ihre Kräfte sind wie das Gestaltende im Baume. Der Geist ist in der Seele wie das Grün der Zweige und Blätter des Baumes; der Wille wie die Blüten, das Gemüt wie der erste Fruchtansatz; die Vernunft aber gleicht den reifen Früchten; das Empfinden wie die weite Ausdehnung. Solcherart wird der Leib des Menschen von der Seele gefestigt und erhalten.


www.hildegard-forum.de / www.hildegardvonbingen.info/ www.bingen.de


Adventslied "Das Volk, das im Finstern wandelt" (aus op. 68 "Sammlung von zehn neuen Kirchenliedmelodien"); Neithard Bethke an seinem Bösendorfer Flügel

Die wir in Todes Schatten so lang gesessen sind
Und kein Erleuchtung hatten in Gottes Sachen blind,
Und kunnten nichts verstehen, nicht Gnade noch Gericht
Sehn über uns aufgehen anjetzt ein helles Licht.

Ein Licht dadurch wir schauen in Gottes Herz hinein,
Daß Er in Zuvertrauen der unsre nun will sein,
Ein Licht, das heftig brennet in unser Fleisch und Blut,
Daß sich ein Mensch erkennet und was für Sund er tut.

Ein Licht, das plötzlich fähret tief in der Gräber Nacht
Und uns den Tod erkläret mit alle seine Macht,
Das uns die Hölle zeiget und was darinnen ist,
Da Satan sich eräuget samt seiner ganzen List.

Das über Mond und Sonne sich in den Himmel dringt
Und uns der Engel Wonne klar zu Gesichte bringt,
Das uns vor Augen malet wie nichts sei Welt und Zeit
Und wie vor allen strahlet der Glanz der Ewigkeit.

Das Wünschen und Verlangen der Vater allzumal
Das ist uns aufgegangen in einem finstern Stall.
Das Kind ist uns geboren, der Sohn ist uns geschenkt
Durch den Gott Herz und Ohren nun gnädig zu uns lenkt.




KLEINE AUSZEIT ZUM 2. ADVENT

Kurt Tucholsky – Es gibt keinen Neuschnee

Wenn du aufwärts gehst und dich hochaufatmend umsiehst, was du doch für ein Kerl bist, der solche Höhen erklimmen kann, du, ganz allein -: dann entdeckst du immer Spuren im Schnee. Es ist schon einer vor dir dagewesen.

Glaube an Gott. Verzweifle an ihm. Verwirf alle Philosophie. Laß dir vom Arzt einen Magenkrebs ansagen und wisse: es sind nur noch vier Jahre, und dann ist es aus. Glaub an eine Frau. Verzweifle an ihr. Führe ein Leben mit zwei Frauen. Stürze dich in die Welt. Zieh dich von ihr zurück….

Und alle diese Lebensgefühle hat schon einer vor dir gehabt; so hat schon einer geglaubt, gezweifelt, gelacht, geweint und sich nachdenklich in der Nase gebohrt, genau so. Es ist immer schon einer dagewesen.

Das ändert nichts, ich weiß. Du erlebst es ja zum ersten Mal. Für dich ist es Neuschnee, der da liegt. Es ist aber keiner, und diese Entdeckung ist zuerst schmerzlich. In Polen lebte einmal ein armer Jude, der hatte kein Geld, zu studieren, aber die Mathematik brannte ihm im Gehirn. Er las, was er bekommen konnte, die paar spärlichen Bücher, und er studierte und dachte, dachte für sich weiter. Und erfand eines Tages etwas, er entdeckte es, ein ganz neues System, und er fühlte: ich habe etwas gefunden. Und als er seine kleine Stadt verließ und in die Welt hinauskam, da sah er neue Bücher, und das, was er für sich entdeckt hatte, das gab es bereits: es war die Differentialrechnung. Und da starb er. Die Leute sagen: an Schwindsucht. Aber er ist nicht an der Schwindsucht gestorben.

Am merkwürdigsten ist das in der Einsamkeit. Dass die Leute im Getümmel ihre Standard-Erlebnisse haben, das willst du ja gern glauben. Aber wenn man so allein ist, wie du, wenn man so meditiert, so den Tod einkalkuliert, sich so zurückzieht und so versucht, nach vorn zu sehen -: dann, sollte man meinen, wäre man auf Höhen, die noch keines Menschen Fuß je betreten hat. Und immer sind da Spuren, und immer ist einer dagewesen, und immer ist noch einer höher geklettert als du es je gekonnt hast, noch viel höher.

Das darf dich nicht entmutigen. Klettere, steige, steige. Aber es gibt keine Spitze. Und es gibt keinen Neuschnee.




"Du bist als Stern uns aufgegangen" (aus op. 70/Ratzeburger Chorbuch; Neithard Bethke auf seiner Hausorgel

Du bist als Stern uns aufgegangen, von Anfang an als Glanz genaht.  Und wir, von Dunkelheit umfangen, erblicken plötzlich einen Pfad.  Dem Schein, der aus den Wolken brach, gingen wir sehnend nach. 


erschienen im Ratzeburger Chorbuch, EM 394



KLEINE AUSZEIT ZUM 1. ADVENT

DIE NACHT IST VORGEDRUNGEN - Jochen Klepper (1903 - 1942)

Aus dem Tagebuch Jochen Kleppers, das 1956 mit dem Titel "Unter dem Schatten deiner Flügel" erschien, findet sich am 18. Dezember 1937 der Eintrag: „Erst um Mittag begann die fahle Wintersonne zu leuchten. Der Untergang war feierlich und groß. In der Dämmerung standen dann die Laternen wie Fackeln am Saume der Gärten. Die klaren schwarzen Äste über der Decke des Schnees sind so friedvoll; ein Bild der tiefen Ruhe. Ich schrieb am Nachmittag ein zweites Weihnachtslied...“


Es entstand an diesem Winternachmittag in Berlin eines der bekanntesten Adventsgedichte, das durch mehrere Vertonungen Eingang in das Gesangbuch fand. Ein Winternachmittag, an dem es früh dunkelte - zwar würden schon bald die Tage wieder länger werden, aber das ist zu diesem Zeitpunkt nur eine zaghafte Gewißheit.

Die Nacht, sie ist ein entscheidendes Motiv und hat als Bild im gesamten dichterischen Schaffen Jochen Kleppers eine besondere Bedeutung. Krisen, ein schwerer familiärer Bruch, eine angeschlagene Gesundheit und das Verbot seiner schriftstellerischen Arbeit unter den Nationalsozialisten - immer wieder wird es für Jochen Klepper tiefste Nacht, immer wieder steht er vor schweren Herausforderungen, Entscheidungen und wird auf eine harte Probe gestellt.

Das Gedicht lebt vor allem von Bildern, die aus dem Gegensatz von licht und dunkel entstehen. Gleichzeitig spricht jede Strophe auch von Ermutigung und Kleppers tiefster Überzeugung, durch Glauben und Vertrauen einen Weg zu finden. Dr. Udo Markus Benz (Weihbischof im Bistum Mainz) faßt es so in Worte: "Jochen Klepper setzt mit seinem Weihnachtslied auf eine „nüchterne Hoffnung“. Das sehe ich als Stärke meines Glaubens: Ein nüchterner Blick auf das Leben. Und dennoch voll Hoffnung."

Über dem ersten Druck des Liedes in Kleppers berühmten Büchlein "Kyrie" steht die Bibelstelle, die ihn besonders inspiriert hat. Es sind Worte des Apostels Paulus aus dem Brief an die Römer, Kapitel 13, Verse 11 und 12, nach der Lutherbibel: "Und weil wir solches wissen, nämlich die Zeit, dass die Stunde da ist, aufzustehen vom Schlaf (sintemal unser Heil jetzt näher ist, denn da wir gläubig wurden; die Nacht ist vorgerückt, der Tag aber nahe herbeigekommen): so lasset uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichtes." (*)

Fünf Jahre nach Entstehen dieser Zeilen bricht für Jochen Klepper, seine Frau Johanna (Hanni) die tiefste Nacht an: es droht die Deportation der jüngeren Tochter. Vom 10. auf den 11. Dezember 1942 setzt die Familie in auswegloser Situation ihrem Leben ein Ende.


"Wie schwer wird uns allen, Genüge zu finden mit dem von Gott uns gegebenen Teil: An Menschen, an Dingen, an Zeit, an Gaben und Geld, auch an Wirkung.

Und doch beginnt erst in solchem Bescheiden das Leben, lebensmöglich zu werden – sich zu richten ganz auf die Mitte hin. Alles andere ist Gebilde unserer Wünsche und Schwächen."

 




* Meinrad Walter, katholisch.de / vgl. auch kirche-im-hr.de




 









 




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"Die Nacht ist vorgedrungen" (aus op. 70/Ratzeburger Chorbuch; Neithard Bethke auf seiner Hausorgel

Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern.
So sei nun Lob gesungen, dem hellen Morgenstern!
Auch wer zur Nacht geweinet, der stimme froh mit ein.
Der Morgenstern bescheinet auch deine Angst und Pein.

Dem alle Engel dienen, wird nun ein Kind und Knecht.
Gott selber ist erschienen zur Sühne für sein Recht.
Wer schuldig ist auf Erden, verhüll nicht mehr sein Haupt.
Er soll errettet werden, wenn er dem Kinde glaubt.

Die Nacht ist schon im Schwinden, macht euch zum Stalle auf!
Ihr sollt das Heil dort finden, das aller Zeiten Lauf
von Anfang an verkündet, seit eure Schuld geschah.
Nun hat sich euch verbündet, den Gott selbst ausersah.

Noch manche Nacht wird fallen auf Menschenleid und -schuld.
Doch wandert nun mit allen der Stern der Gotteshuld.
Beglänzt von seinem Lichte, hält euch kein Dunkel mehr;
von Gottes Angesichte kam euch die Rettung her.

Gott will im Dunkel wohnen und hat es doch erhellt.
Als wollte er belohnen, so richtet er die Welt.
Der sich den Erdkreis baute, der lässt den Sünder nicht.
Wer hier dem Sohn vertraute, kommt dort aus dem Gericht.



erschienen im Ratzeburger Chorbuch, EM 394




Diese Übersicht und die Erarbeitung der Hörbeispiele wurden im Rahmen des Bundesprogrammes Ländliche Entwicklung im Rahmen der Bekanntmachung "Landkultur - kulturelle Teilhabe und Aktivitäten in ländlichen Räumen" gefördert. Der Akademische Chor Zittau/Görlitz war Projektträger des Vorhabens "IMPULS - neue [Kirchen]musik im ländlichen Raum" und dankt ganz besonders für die unkomplizierte Umwidmung der Fördermittel im Jahr der Corona - Pandemie 2020 - damit konnte diese Übersicht und das Angebot für die Kantoreien verstärkt ausgebaut werden.